Der kleine Engel konnte nicht mehr still sitzen. Heute wollte er endlich all seinen Mut zusammennehmen und Engellehrer Feno nach Weihnachten bei den Nordpolianern fragen. „Das heißt nicht Nordpolianer“, tadelte Feno den kleinen Engel, der augenblicklich hochrot anlief. „Rund um den Nordpol leben verschiedene indigene Gruppen, wie die Inuit, Samen, Nenzen und Chukchi“, erklärte Lehrer Feno. 

Es stimmte also, dort, wo der Weihnachtsmann lebte, lebten auch Menschen. Und wo der Weihnachtsmann wohnte, musste Weihnachten einfach magisch sein. „Dann möchte ich mein Weihnachtspraktikum dieses Jahr bitte am Nordpol machen“, platzte der kleine Engel heraus. „Tut mir leid, kleiner Engel, aber für ein Praktikum am Nordpol bist du noch zu klein. Diese Plätze sind für die Abschlussklassen reserviert.“ Der kleine Engel konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Mit gesenktem Kopf trottete er aus dem Klassenzimmer. So gerne hätte er mit eigenen Augen gesehen, wie die Kinder am Nordpol den Weihnachtsabend verbringen. Während seiner Ausbildung zum Weihnachtsengel durfte er schon Weihnachten in Kolumbien, Südafrika und Japan erleben. Es waren stets wunderschöne Momente, doch seine Faszination für das Weihnachtsfest am Nordpol war ungebrochen. Er musste einfach in den hohen Norden, aber wie sollte er das anstellen?

Plötzlich hörte er ein helles, vertrautes Glöckchen klingen. Der kleine Engel flog nach draußen und siehe da, Rudolph, das Rentier, stand mit dem Schlitten des Weihnachtsmannes direkt vor der Weihnachtsschule. Das war seine Chance. Die nächste Unterrichtsstunde hatte gerade begonnen, alle waren in ihren Klassenzimmern, niemand konnte ihn sehen. Ohne lange nachzudenken, schlüpfte der kleine Engel zwischen die kuscheligen roten Kissen, auf denen es sich der Weihnachtsmann wenige Augenblicke später gemütlich machte. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, dachte der kleine Engel, als der Weihnachtsmann mit einem fröhlichen „Ho-ho-ho“ das Startsignal gab, Rudolph blitzschnell losbrauste und der Schlitten in den kristallklaren Winterhimmel entschwand. Der kleine Engel hatte Mühe, sich festzuhalten, aber Gott sei Dank dauerte es nicht lange, bis sie wieder zur Landung ansetzten. Der Schlitten des Weihnachtsmannes war wirklich unglaublich schnell. Kein Wunder, schließlich musste er damit am Weihnachtsabend einmal um die ganze Welt fliegen. Mit einem lauten Knall landeten sie auf dem eisigen Boden direkt vor der Geschenkefabrik am Nordpol. „Entschuldige, Weihnachtsmann“, keuchte Rudi, als Dutzende von Elfen herbeieilten, um ihm die Säcke mit den Wunschzetteln aus der Weihnachtsschule abzunehmen. „Keine Sorge, Rudi. Ich bin gut gepolstert“, lachte der Weihnachtsmann und kletterte vom Schlitten.

Der kleine Engel nutzte den Trubel, kletterte schnell auf die Rückenlehne des Schlittens und flog in das dichte Tannenwäldchen, das an die Geschenkefabrik grenzte. Als die letzten Elfen in der Fabrik verschwunden waren und der Weihnachtsmann Rudi in seinen Stall gebracht hatte, machte sich der kleine Engel auf den Weg. Er hatte frische Hundeschlittenspuren im Schnee entdeckt und beschloss, ihnen zu folgen.

Je weiter sich der kleine Engel vom Weihnachtsdorf entfernte, desto kälter wurde es. Eis und Schnee, so weit das Auge reichte. Um sich warm zu halten, schlug er so schnell er konnte mit seinen Flügeln. Nach einiger Zeit fiel ihm das Fliegen immer schwerer und er überlegte umzukehren. Plötzlich erblickte der kleine Engel einige schneebedeckte Tannen und dazwischen kleine rote Punkte. Als er näher kam, erkannte er, dass es sich um kleine rote Holzhäuser handelte. Die weiß umrahmten Fenster und Türen waren mit leuchtenden Papiersternen geschmückt. Der kleine Engel landete auf einem Fensterbrett und spähte in die gemütliche Stube. Unter einem mit Papierherzen und skandinavischen Flaggen geschmückten Weihnachtsbaum saß ein hübsches kleines Mädchen auf einem dicken roten Teppich. Es war dabei, seine Geschenke auszupacken.

Plötzlich blickte das Mädchen aus dem Fenster und entdeckte den kleinen Engel. Er wollte gerade davonfliegen, doch das freundliche Lächeln des Mädchens hielt ihn davon ab. Das Mädchen öffnete das Fenster einen kleinen Spalt: „Komm schnell rein, draußen ist es bitterkalt!“ Der kleine Engel schlüpfte ins Warme und rieb sich die fröstelnden Glieder. „Ich heiße Anouk und wer bist du?“ „Ich bin der kleine Engel. Ich komme aus der Weihnachtsschule und würde gerne wissen, wie am Nordpol Weihnachten gefeiert wird.“ 

In diesem Moment betraten Anouks Großeltern das Wohnzimmer und lächelten den kleinen Engel ebenfalls mit freundlichen Augen an. „Was für eine schöne Überraschung, ein Weihnachtsengel. Es ist lange her, dass uns hier oben ein Engel besucht hat. Was führt dich in den frostigen Norden?“ „Leider bin ich noch viel zu klein für ein Praktikum am Nordpol, aber ich möchte unbedingt wissen, wie hier Weihnachten gefeiert wird. Deshalb bin ich hier“, sprudelte es aus dem kleinen Engel heraus, der vor Aufregung beinahe von der Sessellehne gefallen wäre. Anouk und ihre Großeltern mussten lachen und winkten das Engelchen zu sich. 

„Das Weihnachtsfest, wie wir es heute kennen, gibt es in der Arktis erst seit 1721. Damals brachten Missionare aus Dänemark das Fest und auch die Weihnachtsbäume zu uns in den hohen Norden. Deshalb schmücken wir unsere Bäume bis heute mit dänischen Flaggen.“ Der kleine Engel lauschte gebannt. „Am ersten Weihnachtstag ziehen die Kinder von Haus zu Haus und singen Lieder, und am Abend besuchen die meisten Familien die Kirche“, erzählte Anouks Großvater. „Und zum Festessen gibt es Wild, geräucherten Lachs oder Heilbutt. Und alle wünschen sich `Juullimi pilluarit` – Frohe Weihnachten“, ergänzt Anouks Großmutter. „Juullimi pilluarit”, wünschte der kleine Engel und strahlte von einem Ohr zum anderen. „Juullimi pilluarit!”, wünschten auch Anouk und ihre Großeltern.

„Möchtest du Weihnachten mit uns verbringen?“ Anouk sah den kleinen Engel mit erwartungsvollen Augen an. Der kleine Engel konnte sein Glück kaum fassen und willigte sofort ein. Nachdem sie gemeinsam gesungen, gegessen, Geschenke ausgepackt und in die Kirche gegangen waren, fiel der kleine Engel erschöpft, aber glücklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Weihnachtsmorgen wurde der kleine Engel von einem dumpfen Klopfen geweckt. Anouk und ihre Großeltern waren bereits wach und öffneten die Tür. Draußen stand Rudolph, das Rentier, das den kleinen Engel sofort in der warmen Stube entdeckte. „Kleiner Engel, Gott sei Dank habe ich dich gefunden. Dein Lehrer Feno hat uns von deinem Verschwinden berichtet, er hat sich große Sorgen gemacht. Er hat schon vermutet, dass ich dich hier oben finden könnte, also bin ich der Spur aus goldenem Engelshaar gefolgt. Mach das nie wieder, uns so einen Schrecken einzujagen!“ „Tut mir leid, lieber Rudolph. Es kommt bestimmt nie wieder vor“, versprach der kleine Engel.

Zum Abschied umarmte er Anouk und ihre Großeltern. „Danke für das schönste Weihnachtsfest, das ich bisher erleben durfte. Jetzt weiß ich auch ganz genau, wo ich nach meinem Abschluss als Weihnachtsengel arbeiten möchte. Ich freue mich schon jetzt auf unser Wiedersehen“, rief der kleine Engel seinen neuen Freunden noch zu, bevor er auf Rudolphs Rücken kletterte und die beiden den Heimweg antraten.

Inspiration zu dieser Geschichte war die Neugierde meiner kleinen Nichte, die wissen wollte, wie die Menschen im hohen Norden leben.