„Jetzt mach doch mal Platz! Du drängst dich immer ins Rampenlicht“, grummelte der mürrische Lebkuchenmann, zog die Mundwinkel noch ein wenig weiter nach unten und schubste die elegante Lebkuchendame beinahe vom Serviertablett. „Sie sind wirklich unerhört! Kein Wunder, dass Sie schon seit Wochen hier im Schaufenster stehen und niemand Sie kaufen möchte“, wetterte die sonst so zuckersüße Lebkuchendame. „Wenn Sie noch mürrischer dreinschauen, bekommen Sie bestimmt bald Risse und zerbröseln wie ein alter Keks. Möchten Sie das, so kurz vor Weihnachten?“ Der mürrische Lebkuchenmann schwieg. Er stand wirklich schon lange in der Auslage, und der Bäcker legte fast täglich neue Lebkuchenmänner und -frauen dazu. Aber es dauerte nicht lange, dann waren sie wieder verkauft und konnten ihrer Bestimmung nachgehen und jemandem den Tag versüßen. Der mürrische Lebkuchenmann aber blieb stets zurück und musste sich eingestehen, dass er seine saftigsten Tage bereits hinter sich hatte. Er wusste, dass er sich etwas einfallen lassen musste, um nicht – wie die anderen mürrischen Lebkuchenmänner – in der Bröselmaschine oder schlimmer noch, im Müll zu landen.
„Warum bäckt der Bäckermeister eigentlich immer wieder mürrische Lebkuchenmänner?“, dachte der mürrische Lebkuchenmann laut. „Ganz einfach, weil er genervt ist“, rollte die Lebkuchenfrau ihre runden Kulleraugen. „Das ist doch ganz normal in der Vorweihnachtszeit. Die Menschen hetzen durch die Gegend, kaufen Geschenke, bereiten sich auf die Feiertage vor und versuchen dann auch noch, alles, was sie das ganze Jahr über nicht geschafft haben, in den letzten Tagen vor Weihnachten zu erledigen. Schlechte Laune ist da vorprogrammiert. Damit kennen Sie sich ja aus“, stichelte die Lebkuchendame. „Das ist aber nicht meine Schuld! Schließlich hat mir der Herr Bäckermeister diese mürrische Miene verpasst“, wehrte sich der mürrische Lebkuchenmann. „Da hat er allerdings Recht“, grübelte die Lebkuchendame und versank in ihren Gedanken. Früher war der Bäckermeister immer fröhlich gewesen, mit den Jahren war ihm sein Lächeln allerdings abhanden gekommen. Die Menschen verlangten immer mehr. Immer schneller, immer besser, immer mehr sollte er backen, immer tolle Neuheiten erfinden, und dabei sollte alles auch noch billiger werden. Kein Wunder, dass er die Freude an seinem Handwerk verloren hatte.
Es musste doch einen Weg geben, um den Bäckermeister wieder zum Lachen zu bringen, schließlich sollten zu Weihnachten ausschließlich fröhliche Lebkuchenmänner und -frauen ihren Weg auf die Plätzchenteller finden. Doch wie sollten sie das bloß anstellen? „Ich habe eine Idee“, sprudelte es plötzlich aus der Lebkuchendame. „Die Zauberzutat – sie ist die Rettung für gute Laune und lachende Lebkuchenmänner und -frauen.“ Der mürrische Lebkuchenmann blickte verdutzt. „Sie werden schon noch verstehen“, versicherte ihm die Lebkuchenfrau und schenkte ihm dabei ein zuckersüßes Lächeln.
Als der Bäckermeister nach Ladenschluss das Licht löschte und die Treppe zu seiner kleinen Wohnung über der Bäckerei hinaufstapfte, machte sich die Lebkuchenfrau daran, ihren raffinierten Plan in die Tat umzusetzen. Viele Male hatte sie den Bäckermeister schon dabei beobachtet, wie er abends den Lebkuchenteig für den nächsten Tag vorbereitete. Ein Schuss Rum und ein großer Löffel Waldhonig waren seine geheimen Zutaten. Nachdem er den Teig gekostet hatte, huschte stets ein leises Lächeln über seine Lippen. Und so sprang die Lebkuchenfrau vom Serviertablett auf die Theke, wo die klebrige Masse schon bereit stand. Geschickt schnappte sie sich einen Löffel und rührte voller Zuversicht noch einen großen Löffel Waldbienenhonig unter den Teig. „Wenn der Bäckermeister morgen früh von dieser süßen Verführung kostet und sich an das Rezept seiner lieben Großmutter erinnert, kann er gar nicht anders, als gut gelaunt in den Tag zu starten“, war sich die Lebkuchendame sicher. Und sie sollte Recht behalten.
Als der Bäckermeister früh morgens um vier Uhr verschlafen in die Backstube trottete und wie jeden Tag kurz vom Teig naschte, bevor er sich an die Arbeit machte, geschah etwas Wunderbares. Nicht nur, dass er sofort ein strahlendes Lächeln auf den Lippen hatte, er pfiff, sang und tanzte sogar durch die Backstube. Die Erinnerung an die Liebe und Leidenschaft, mit der seine Großmutter den süßen Teig rührte, erinnerte ihn auch daran, warum er in ihre Fußstapfen getreten und Bäcker geworden war – weil er nur das tun wollte, was er wirklich liebte. Und siehe da, ab diesem Moment verströmten nicht nur der Bäckermeister, sondern auch der ehemals mürrische Lebkuchenmann, dank etwas frischem Zuckerguss, wieder diesen fröhlichen Weihnachtszauber, der im Nu die Herzen erwärmt und die Menschen in aller Welt glücklich macht.