„Uhhh, uhhh, heiß, heiß, autsch!“, die kleine Weihnachtskerze wehrte sich nach Kräften gegen das lodernde Feuer. Doch es dauerte nicht lange und es machte wieder „zisch!“. Ein neues Streichholz wurde angezündet und kam ihr gefährlich nahe. Doch die kleine Weihnachtskerze hatte nicht vor zu brennen und unterdrückte ihren Urinstinkt, eine Flamme zu entwickeln. Schließlich hatte sie schon oft miterlebt, was mit Kerzen passiert, die brennen. Sie schmelzen und werden immer kleiner, bis sie schließlich ganz verschwunden sind. Das sollte der kleinen Weihnachtskerze nicht passieren. Sie wollte den Weihnachtsbaum in seiner ganzen Pracht schmücken, so wie sie es an den vergangenen Weihnachtsfesten getan hatte, und das besinnliche Treiben aus der ersten Reihe beobachten.
„Mama, die kleine Kerze mit dem goldenen Stern will schon wieder nicht brennen“, rief Franz-Xaver aus dem Wohnzimmer in Richtung Küche. „Jetzt reicht’s. Auch wenn sie mit ihrem goldenen Stern noch so hübsch anzusehen ist – eine Kerze muss brennen und wenn sie das nicht tut, hat sie ihr Recht verwirkt, den Weihnachtsbaum zu schmücken.“ Mama Rosalinde schnappte sich die kleine Weihnachtskerze und beförderte sie schnellen Schrittes nach draußen, wo sie kurzerhand in der Mülltonne landete, die schon abholbereit auf dem Gehsteig stand.
„Pfui, stinkt das hier!“ Die kleine Weihnachtskerze war zwischen einem verschimmelten Stück Käse und einer faulen Banane gelandet. Von dem süßlichen und gleichzeitig modrigen Geruch wurde der kleinen Weihnachtskerze ganz übel. „Ach herrje, vielleicht hätte ich mich doch nicht so sehr gegen die kleine Flamme wehren und wenigstens ein bisschen brennen sollen. Dann würde ich jetzt bestimmt noch den wunderschönen Weihnachtsbaum schmücken und müsste nicht hier verrotten.“ Plötzlich sah die kleine Kerze, wie Nachbar Karl neugierig in die Mülltonne spähte. Die kleine Weihnachtskerze kannte Karl von seinen weihnachtlichen Besuchen. Sie mochte Nachbar Karl. Er war immer gut gelaunt und hatte stets einen flotten Spruch auf den Lippen. Karl griff nach der kleinen Weihnachtskerze. „Nanu, wie bist du denn im Müll gelandet?“, wunderte er sich und steckte die kleine Kerze in seine Jackentasche. Zu Hause befreite Karl die kleine Kerze von einem Stückchen Käse, das an ihr kleben geblieben war und steckte sie in einen goldglänzenden Kerzenhalter am Weihnachtsbaum. Freudig betrachtete er das Ergebnis mit seinen dunklen Kulleraugen und lächelte zufrieden. Mit langsamen Bewegungen bückte sich Karl nach unten zu dem kleinen Beistelltischchen, auf dem neben einem Plätzchenteller eine Schachtel mit langen Streichhölzern lag. Die kleine Weihnachtskerze zuckte zusammen. Aber sie wusste, dass sie ihre zweite Chance nutzen und wenigstens ein bisschen brennen musste. Auf keinen Fall wollte sie wieder im stinkenden Mülleimer landen.
Als Karl das Streichholz anzündete und den Docht der kleinen Kerze berührte, entfachte sie eine kleine Flamme. Ein kleines bisschen wollte sie brennen und die Flamme dann unbemerkt wieder ersticken. Karl und seine Lieben stimmten „Oh Tannenbaum“ an. Die kleine Kerze hörte gerührt zu und erfreute sich noch an einigen weiteren Weihnachtsliedern, ehe sich Karl und seine Lieben nach „Stille Nacht, heilige Nacht“ umarmten und sich frohe Weihnachten wünschten. Die kleine Kerze blickte ängstlich um sich, sie hatte im weihnachtlichen Treiben ganz und gar vergessen, ihre Flamme zu ersticken. Die meisten Kerzen am Weihnachtsbaum waren bereits zu kleinen Stummeln heruntergebrannt. Als sie an sich hinunter sah, schien sie immer noch so groß wie eh und je. Wie konnte das sein? Karl trat an den Baum und löschte die niedergebrannten Kerzen. Als er zu der kleinen Weihnachtskerze kam, lächelte er. „Ohhh, eine immerwährende Wunderkerze. Ich hab’s gewusst, du bist was ganz Besonderes.“