Die Lichter der Stadt funkelten wie kleine Sterne am Firmament. Obwohl es bereits mitten in der Nacht war, waren noch immer zahlreiche Menschen und Fahrzeuge auf den Straßen anzutreffen. Vor allem auf den großen Avenues wie den Champs-Élysées und dem Boulevard Haussmann herrschte reger Verkehr. Die Bremslichter und Blinker der Autos leuchteten im Sekundentakt auf, und immer wieder war ein leises Hupen zu hören. Der Weihnachtsmann beobachtete das Treiben von seinem Schlitten aus, während Rentier Rudolph und seine Freunde Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Dunder und Blixem das schwer beladene Gefährt durch klirrend kalte Luftströme manövrierten. Die Rentiere waren hoch konzentriert. Bei der Menge an Geschenken durften sie keine zu schnellen Kurven ziehen, sonst drohte der Schlitten umzukippen. Einen Geschenkregen über der Seine wollten sie auf keinen Fall riskieren. Sie durften sich aber auch nicht zu viel Zeit lassen, denn langsam schwanden unter der Last der Ladung auch ihre Kräfte und der Schlitten verlor immer mehr an Höhe. Comet, der den Schlitten anführte, hatte noch die meiste Kraft und feuerte die anderen Rentiere mit einem Blick über die Schulter an, bis zur ersten Geschenkstation durchzuhalten. „Kommt, nur noch ein kleines Stück, das schaffen wir!“, rief Comet und gab noch einmal richtig Gas. Plötzlich spürte er einen heftigen Ruck. Als wäre er in einen überdimensionalen Bogen eingespannt worden, beschleunigte sich sein Tempo, wobei er nicht nur die Kontrolle, sondern auch die Orientierung verlor. Er drehte sich mehrmals um die eigene Achse, streifte ein paar Baumwipfel, schlitterte mit dem Rücken über die mit unzähligen Kaminen bestückten Dächer und landete schließlich unsanft zwischen zwei steinernen Dachkuppeln.
Comet brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passiert war. Er hatte sich unabsichtlich vom Schlitten losgerissen. Doch wo war er gelandet? Comet rappelte sich auf. Über ihm ragte eine noch viel größere Dachkuppel in den Himmel. Um einen besseren Überblick über seine aktuelle Position zu gewinnen, kletterte er bis ganz nach oben. Dort angekommen, verschlug es ihm die Sprache. Das funkelnde Paris lag ihm schweigend zu Füßen. Direkt unter ihm befand sich ein großer Platz, von dem unzählige Stufen den Berg hinunter in die sanft beleuchteten Straßen führten. Sein Blick wanderte am Horizont entlang, wo er etwas weiter rechts an einem rot leuchtenden Mühlrad hängen blieb. Oh, là là – plötzlich wusste er, wo er sich befand. Er war auf Sacré-Cœur gelandet. Doch wo waren der Weihnachtsmann, der Schlitten und die anderen Rentiere?
„Rudolph, geht es euch gut? Habt ihr euch verletzt?“ Der Weihnachtsmann rappelte sich auf und rannte zu seinen Rentieren, die gerade versuchten, den Schlitten wieder aufzurichten. „Uns geht es gut, Weihnachtsmann. Aber die Geschenke sind vom Schlitten gefallen.“ „Das macht doch nichts, Hauptsache es geht allen gut“, antwortete der Weihnachtsmann. „Wo sind wir hier überhaupt gelandet?“ „Wir sind an der Spitze des Eiffelturms hängengeblieben und auf die oberste Aussichtsplattform gepurzelt“, berichtete Rudolph. „Der unglückliche Landeplatz und die verstreuten Geschenke sind allerdings nicht unser größtes Problem. Comets Zaumzeug hat sich beim Aufprall gelöst und er wurde weggeschleudert. Wir müssen ihn so schnell wie möglich finden. Um weiterfliegen zu können, brauchen wir die Kraft aller neun Rentiere.“
Der Weihnachtsmann schluckte. Comet konnte jetzt überall sein. Wo sollten sie bloß anfangen zu suchen? Vor allem musste er einen Weg finden, um vom Eiffelturm herunterzukommen. Die Besucherräume und die Fahrstühle waren geschlossen, der Zugang zu den Stufen abgesperrt. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als nach unten zu klettern. In der Zwischenzeit hatte Rudolph bereits das Zaumzeug auseinandergenommen und zu einer behelfsmäßigen Kletterausrüstung verknotet, die er dem Weihnachtsmann reichte. „Such am besten nach dem schönsten Weihnachtsbaum der Stadt! Laut Comet ist das der Ort, an dem am meisten Weihnachtszauber versprüht wird. Womöglich hast du Glück und kannst ihn dort finden“, drückte Rudolph die Daumen.
Das war zumindest ein Anhaltspunkt. Rasch knotete sich der Weihnachtsmann den Gurt um die Hüften, während Rudolph das andere Ende mit einem Bergsteigerknoten am Eisengeländer des Eiffelturms befestigte. Der Weihnachtsmann verlor keine Zeit und kletterte flink das Eisengerüst hinab. Als er etwa auf halber Höhe angekommen war, wurde er plötzlich von tausenden grellen Blitzen geblendet. Vor Schreck rutschte er mit den Händen ab und fiel hinunter. Mit einem kräftigen Ruck wurde er vom Klettergurt aufgefangen. „Mon dieu, das war knapp“, stöhnte der Weihnachtsmann erleichtert. Um das Gerüst des Eiffelturms wieder zu erreichen, begann er zu schaukeln. Ein paar Mal hatte er es fast geschafft, doch inzwischen hatte es zu schneien begonnen und es wurde immer schwieriger, Halt zu finden. Aber der Weihnachtsmann gab nicht auf und schaukelte so lange weiter, bis er sich am äußersten Rand von einem der vier „Füße“ des Eiffelturms festhalten konnte. Um die durch den Sturz verlorene Zeit wieder aufzuholen, wagte der Weihnachtsmann ein riskantes Manöver und rutschte die zweite Hälfte des Weges kurzerhand auf seinem Hinterteil nach unten.
Inzwischen hatte auch Comet den Abstieg von Sacré-Cœur hinter sich. Ziellos streifte er über den Place du Tertre und durch das angrenzende Künstlerviertel. Als er am zuckerwattefarbenen La Maison Rose in der Rue de l’Abreuvoir vorbeikam, entdeckte er ein paar mit Lichterketten behangene Weihnachtsbäume. Die kleinen Lämpchen tanzten zerstreut im Wind. Comet sah ihnen fasziniert zu. Weihnachtsbäume hatten ihn schon immer magisch angezogen. Der würzige Duft der Tannennadeln und das besinnliche Funkeln der liebevollen Dekoration waren für ihn der Inbegriff von Weihnachten. Plötzlich wusste er, wo er nach dem Weihnachtsmann und den anderen Rentieren suchen musste.
Die Rutschpartie des Weihnachtsmannes nahm ein jähes Ende, und er landete mit gewaltigem Schwung am Fuße des Eiffelturms auf seinem Hinterteil. Sein Steißbein schmerzte, aber er durfte jetzt nicht wehleidig werden. Schließlich musste er Comet finden und dann so schnell wie möglich alle Weihnachtsgeschenke ausliefern. Aus Mangel an Ideen lief er zum Ufer der Seine. Bis auf ein paar Lachmöwen war dort niemand in Sichtweite. Verzweifelt blickte er sich um. Schließlich entdeckte er ein älteres Ehepaar, das auf einem Hausboot saß, mit Ferngläsern den Nachthimmel beobachtete und sich angeregt unterhielt. Als sich der Weihnachtsmann näherte, winkte ihm die ältere Dame hektisch mit beiden Armen zu. „Bonsoir, Weihnachtsmann! Habe ich es doch richtig gesehen? Wir haben gerade die Sterne beobachtet, als Sie mit Ihrem Schlitten über dem Eiffelturm abgestürzt sind. Haben Sie sich verletzt?“ „Nein, mir ist nichts passiert. Aber leider habe ich eines meiner Rentiere verloren. Ich bin auf dem Weg, um es zu suchen. Wissen Sie zufällig, wo ich den schönsten Weihnachtsbaum von Paris finden kann?“ Die alte Dame überlegte und strich sich dabei mit ihrem linken Daumen und Zeigefinger über die Kinnlinie. „Den schönsten Weihnachtsbaum von Paris finden Sie wahrscheinlich in der Galeries Lafayette. Aber die hat um diese Zeit geschlossen.“ „Das ist kein Problem“, erwiderte der Weihnachtsmann. „Ich komme durch jeden Schornstein.“
Als Comet bei der Galeries Lafayette ankam, lag das Einkaufszentrum im Dunkeln. Die Eingangstüren waren verschlossen und die sonst beweglichen Schaufensterpuppen standen still. Comet beschloss, alle Türen rund um die Galeries Lafayette zu testen. Möglicherweise hatte der Nachtwächter vergessen, einen der vielen Eingänge abzuschließen. Als er an einer der Hintertüren rüttelte, machte es klick. Die Tür öffnete sich und Comet schlüpfte hinein. Vorsichtig stapfte er durch die unterste Etage des Einkaufsparadieses. Er drückte sich durch die Beauty-Kioske von Chanel, Dior und Hermès – und siehe da, plötzlich stand er unter dem spektakulärsten Weihnachtsbaum, den er je gesehen hatte. Unzählige überdimensionale Lichter, funkelnde Sterne, glänzende Kugeln, rot-weiß gestreifte Zuckerstangen und Weihnachtsfiguren in allen schillernden Farben des Regenbogens schmückten den frei schwebenden Baum. So etwas hatte Comet noch nie gesehen. Der Baum sah wirklich genauso aus wie auf dem Wunschzettel des kleinen Mädchens, den er kurz vor der Abreise am Nordpol in der Expressabteilung der Geschenkwerkstatt entdeckt hatte.
Nur etwa fünf Minuten nach Comet traf auch der Weihnachtsmann in der Galeries Lafayette ein. Als er vor dem gigantischen Jugendstilgebäude stand, bemerkte er, dass er seinen Schornsteinplan nicht ganz durchdacht hatte. Normalerweise landete er mit dem Schlitten direkt auf dem Dach. Jetzt stand er 40 Meter unter der mächtigen Glaskuppel des berühmten Einkaufszentrums auf der Straße. „Hätte ich doch etwas Elfenstaub eingepackt, wie Frau Claus mir geraten hat, dann könnte ich jetzt direkt nach oben fliegen“, seufzte der Weihnachtsmann. „Du kannst aber auch einfach durch die Hintertür da reingehen.“ Der Weihnachtsmann drehte sich um und sah eine in Lumpen gekleidete Frau, auf deren Schultern mehrere Tauben saßen. „Das Rentier ist auch da hineinspaziert“, deutete sie mit dem Zeigefinger auf die schwarze Eisentür. Der Weihnachtsmann bedankte sich und rüttelte schnell an der Tür, bis sie sich mit einem lauten Klacken öffnete. Drinnen sah er sich hektisch um. Wo war jetzt bloß der Baum, von dem die alte Dame auf dem Hausboot gesprochen hatte? Plötzlich sah der Weihnachtsmann nassgraue Hufabdrücke auf dem hellen Fliesenboden. Das mussten Comets Spuren sein! Er folgte ihnen und stieß auf dem Weg zwischen den zahlreichen Mini-Beauty-Shops immer wieder an teuer aussehende Cremes und Parfumflakons.
„Weihnachtsmann, da bist du ja – Gott sei Dank!“ Comet stand unter dem größten schwebenden Weihnachtsbaum, den der Weihnachtsmann je gesehen hatte. „Mein lieber Comet, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, dich zu sehen.“ Der Weihnachtsmann umarmte seinen treuen Gefährten und tätschelte ihm dabei liebevoll den Rücken. Doch die Wiedersehensfreude währte nicht lange, denn die beiden mussten sich so schnell wie möglich auf den Weg zum Eiffelturm machen, um alle Geschenke noch rechtzeitig ausliefern zu können. Als sie wieder auf den Boulevard Haussmann hinaustraten, standen da plötzlich Rudolph und die anderen Rentiere mit dem Schlitten. „Das gibt’s doch nicht, wie kommt ihr denn hierher?“ Der Weihnachtsmann machte große Augen. „Nachdem wir alle Geschenke eingesammelt hatten, haben wir festgestellt, dass der Schlitten ohne dich wesentlich leichter ist. So haben wir es geschafft, ihn auch zu acht in die Luft zu bringen und sind sofort hierher geeilt“, strahlte Rudolph. „Aber jetzt sollten wir schnell weiterfliegen. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch, alle Geschenke auszuliefern.“ „Einen Moment noch“, bat der Weihnachtsmann. Mit geschultem Blick musterte er die Geschenke auf dem Schlitten, schnappte sich schnell ein kleines Päckchen und lief damit zu der in Lumpen gekleideten Frau. „Sie haben mir heute mit Ihrer Hilfe das schönste Geschenk gemacht. Deshalb möchte ich Ihnen nun auch eine kleine Freude bereiten“, lächelte der Weihnachtsmann und überreichte das Päckchen, in dem ein funkelnder Taler steckte. „Joyeux Noël – fröhliche Weihnachten“, wünschte er noch einmal, während er flink auf seinen Schlitten kletterte und mit Comet, Rudolph, Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Cupid, Dunder und Blixem in den Pariser Nachthimmel entschwand.
Inspiration für diese Geschichte war die wunderbare Zeit, die ich zwischen 2017 und 2021 in Paris verbringen durfte.