Zwischen Druckerschwärze und Deadline …
treffe ich Crocodile Dundee an der Raststätte zum Bewerbungsgespräch 

Jeder Mensch hat einen allerersten Freund. Einen, den man quasi von Geburt an kennt. In meinem Fall ist das Hannes. Hannes heißt übrigens wirklich Hannes. Das ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, weil ich für alle anderen Personen, die in den folgenden Kurzgeschichten auftauchen, ein Pseudonym verwenden werde.  Warum ich das bei Hannes nicht mache? Als Zeichen der Wertschätzung und ganz einfach, weil er es mir erlaubt hat. Danke dafür, lieber Hannes.
Hannes war also mein allererster Freund. Gemeinsam haben wir den Spielplatz in der Wienerstraße 214a unsicher gemacht, Stachelbeeren vom Garten unserer Nachbarin Frau Steiner gestibitzt, Batman und Robin gespielt, den Kindergarten besucht, die Volksschulbank gedrückt und unzählige Male die berühmte Szene aus Crocodile Dundee gesehen, in der Mick Dundee alias Paul Hogan von einem Straßenräuber mit einem Messer bedroht wird, daraufhin selbst ein viel größeres Messer zückt und lässig sagt: „Das ist doch kein Messer. DAS ist ein Messer!“ Und das taten wir ziemlich oft. Denn Hannes war ein sogenanntes Schlüsselkind und durfte nach der Schule ganz alleine nach Hause gehen und eine Fertigpizza in den Ofen schieben und den Videorecorder bedienen. Den Ofen auch nur im Entferntesten anzufassen, war bei uns zuhause „strengstens verboten“. Das durften nur die Erwachsenen, weil: „extrem gefährlich“. Hannes war somit mein Held. Schließlich durfte er dieses „extrem gefährliche“ Küchengerät bedienen. Und er tat es mit einer Selbstverständlichkeit, die mich tief beeindruckte.  

35 Jahre später bin ich immer noch sehr beeindruckt von meinem allerersten Freund. Denn so selbstsicher wie er als Sechsjähriger den „extrem gefährlichen“ Ofen bediente, so furchtlos führt er heute sein Unternehmen. Dabei strahlt er dieses Leader-Gen aus, das er schon in jungen Jahren in sich trug. So war er auch auf dem Spielplatz unser „Anführer“, dem Stefan – das war übrigens der Dritte bei uns im Bunde – und ich bewundernd folgten. Ich glaube, er hatte bereits damals die Gabe, die Dinge immer als großes Ganzes zu betrachten und dabei die Welt einzubeziehen – und zwar nicht nur seine, sondern eine, die gerade tatsächlich existierte. 

Im Jahr 2005, Hannes und ich waren damals 21 Jahre alt (wir hatten uns übrigens zwischenzeitlich wegen eines Umzugs aus den Augen verloren und uns Jahre später zufällig auf der Linzer Landstraße wieder getroffen), klingelte eines Tages mein Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Hannes, der mich fragte, ob ich nicht bei einer oberösterreichischen Tageszeitung – nennen wir sie OÖ Morgenpost – arbeiten wollte. Er kenne jemanden, dem eine Stelle als Redakteur angeboten worden sei, der diese aber nicht annehmen wolle und der mich stattdessen weiterempfehlen würde. 

„Du studierst doch noch Journalismus, oder?“, fragte er mich, als ich mehrere Sekunden lang keinen Ton von mir gab. Und es dauerte noch ein paar weitere Sekunden, bis ich meine Sprache wiedergefunden hatte, denn als Studentin der Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Journalistik hatte ich gerade einen Lottotreffer gelandet. Schließlich wurde mir und meinen Kommilitonen immer wieder prophezeit, dass wir ohnehin alle keinen Job bekommen würden. Und falls wir doch das unfassbare Glück hätten, müssten wir dafür sofort alles hinschmeißen. Auch das Studium. 

Nicht lange nach meinem Telefonat mit Hannes rief mich der Chefredakteur der OÖ Morgenpost – nennen wir ihn Klaus Grombach – an, um einen Termin für ein Vorstellungsgespräch zu vereinbaren. Er könne am kommenden Freitag auf dem Weg zu einem Termin bei der Raststation Rosenberger in Ansfelden eine kurze Pause einlegen und ich solle doch bitte dort vorbeikommen. Unglaublich. Ich hatte tatsächlich ein Vorstellungsgespräch. 

Also stieg ich an jenem Freitag in meinen roten Opel Kadett, drehte den Zündschlüssel um und hielt den Atem an. Der Wagen war prinzipiell gut in Schuss, aber das Jahrhunderthochwasser im Sommer 2002 hatte seine Spuren hinterlassen. Ein angerosteter Unterboden, ein gurgelndes Automatikgetriebe, das nur mit einem kräftigen Gasstoß in die Gänge kam – jedes Mal ein kleines Nervenspiel. Heute durfte nichts schief gehen. Beherzt trat ich also das Gaspedal durch und fuhr die wenigen hundert Meter von meinem Elternhaus bis zur Autobahnraststätte.

Als ich aus dem Auto stieg, spürte ich die Nervosität mit voller Wucht. Mein Magen zog sich zusammen. In mir tobte es, als hätte man Tausenden von brummenden Hummeln Pfeffer in die Nase gepustet. Was tat ich hier eigentlich? Ich traf mich mit einem wildfremden Mann an einer Raststätte zu einem Vorstellungsgespräch. Konnte das wahr sein? Würde da wirklich jemand auf mich warten? Gab es diesen Job überhaupt? Und wie würden wir uns überhaupt finden? Wir hatten kein Erkennungszeichen ausgemacht. Plötzlich fühlte ich mich wie in einer dieser Filmszenen, in denen sich zwei Menschen zu einem nervenaufreibenden Blind Date treffen – eingefädelt von einem gutmeinenden, aber gnadenlos optimistischen Freund. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich hatte zugesagt. Ich wollte diese Chance nicht verpassen. Und vor allem wollte ich Hannes nicht in Verlegenheit bringen. Also atmete ich tief durch, presste die Lippen aufeinander und stieß die schwere Glastür auf.

Kaum war ich eingetreten, entdeckte ich einen älteren, rundlichen Herrn, der aufgeregt mit beiden Armen winkte. Mein suchender Blick musste mich verraten haben.
Auf dem Weg zu seinem Tisch musterte ich ihn unwillkürlich. Er war glatt rasiert, hatte dünnes, rehbraunes Haar, das quer über den Kopf gekämmt war, um die kahle Mitte zu verbergen, freundliche, kastanienbraune Knopfaugen, die auffallend nahe an der Nasenwurzel saßen und ihm einen sanften Ausdruck verliehen, eine markante Nase mit einem scharfen Höcker, der jedoch nicht zu dominant wirkte und schmale Lippen, die sich farblich kaum vom Rest seines Gesichts abhoben. Er trug eine speckige, schlammfarbene Wildlederjacke, ein fein gestreiftes Hemd, das sich leicht über seinem Bauch spannte, eine ausgewaschene Jeans und einen goldenen Siegelring, der das dunkle Haar an seinem kleinen Finger frech abstehen ließ. 

Ich ließ mich auf den harten Holzstuhl ihm gegenüber sinken, versuchte die nüchterne Raststättenatmosphäre auszublenden und zwang mich zu einem Lächeln. Er drehte eine PET-Flasche mit gespritztem Apfelsaft zwischen seinen Händen und begann ohne Umschweife zu reden. Er referierte über das Konzept der OÖ Morgenpost: kurze Texte, knackige Titel, spritzige Bilder, launige Geschichten, lokale News. Kurz gesagt: Boulevard. Er sprach von „Feuerwehr und Polizei abklappern“, „Schlussdienst“ und „Kaffeehaus-Gesprächen“.  Von „heißem Scheiß“, von „Geschichten, die jeder verstehen muss“, vom „Leben, wie es wirklich ist“. Am Ende schaute er mich an und stellte die entscheidende Frage: „Kannst du dir vorstellen, das zu machen?“

Ich hatte keine Ahnung, wovon er die letzten zehn Minuten gesprochen hatte. Spätestens jetzt hätte mir klar sein müssen, dass mein Studium der Kommunikationswissenschaft von der realen Medienwelt so weit entfernt war wie die Erde vom Saturn. Aber eines wusste ich: Diese Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen. Ich hatte nichts zu verlieren. Also sagte ich: „Ja, klar.“

Und damit war es beschlossene Sache. Ich würde Anfang des Monats als freie Redakteurin bei der OÖ Morgenpost anfangen, ohne auch nur ein Wort über Gehalt oder Arbeitszeiten verloren zu haben, ohne zu wissen, worauf ich mich da einließ. Und das war wahrscheinlich auch gut so.

Für immer verbunden. Danke, lieber Hannes, dass du immer an meiner Seite warst und auch heute noch bist