Das Christkind rüttelte am Wolkenzipfel. „Hallo, liebe Schneeflocken, wo seid ihr? Wollt ihr nicht endlich auf die Erde schneien?“ Keine Reaktion. Das Christkind lauschte an der Wolke, konnte aber keinen Schneeflockenlaut hören. Also rüttelte es noch einmal, diesmal etwas kräftiger. Doch es fielen einfach keine Schneeflocken aus der Wolke. „Es ist schon bald Heiligabend und die Menschen freuen sich auf weiße Weihnachten. Damit sie das auch erleben können, müsst ihr euch langsam auf den Weg machen“, versuchte es das Christkind noch einmal.
Doch in der Winterwolke blieb es still. Die Schneeflocken hatten sich dicht an die Wolkenwand gedrückt. Sie hatten nicht vor, zur Erde zu fliegen. Sie würden gemütlich in ihrer Wolke bleiben. Die Mühe der langen Reise wollten sie sich ersparen. Für dieses Jahr war es genug, sie hatten ihren Dienst getan. Meist landeten sie ohnehin nur auf schmutzigen Straßen, purzelten von verstopften Dachrinnen oder blieben an schiefen Baumwipfeln hängen, ehe sie kurz darauf von der Sonne wach gekitzelt und wieder in den Himmel gesogen wurden. Früher hatten sie noch Zeit, sich von der langen Reise nach unten zu erholen. Mittlerweile war es beinahe unmöglich geworden, liegen zu bleiben. Kaum hatten sie es sich gemütlich gemacht, ging der Aufstieg in den Himmel auch schon wieder los. Den Winterurlaub hatten sie sich redlich verdient. Aber jetzt wollte ihnen das Christkind einen Strich durch die Rechnung machen. Was hatte es hier überhaupt zu suchen? Wenn jemand an den Winterwolken rüttelte, dann war es doch wohl Frau Holle – und die hatte bereits aufgegeben. Nach drei Tagen vergeblichen Rüttelns taten ihr die Arme so weh, dass sie sich geschlagen geben musste. Sie mussten also nur noch so lange ausharren, bis das Christkind müde wurde und sich selbst auf den Weg zur Erde machte. Schließlich konnte es nicht ewig bei ihnen herumhängen, der wichtigste Tag seines Arbeitsjahres stand vor der Tür.
Plötzlich wirbelten die Schneeflocken wieder ordentlich durch die Wolke. Das Christkind hatte nun zwei Wolkenzipfel in den Händen und schüttelte sie so kräftig, dass die Schneeflocken den Halt verloren. Mit einer solchen Kraft hatten sie nicht gerechnet. „Kommt, liebe Schneeflocken! Wollt ihr den Kindern keine Freude bereiten?“ Das Christkind schüttelte so weiter, bis es Schneeflocke Schorsch zu bunt wurde. Von dem vielen Schütteln war ihm schon ganz übel. „Auuuufhören! Das hält ja kein Hagelkorn aus.“ Das Christkind ließ die Wolkenzipfel aus seinen Händen gleiten. „Warum ziert ihr euch denn so? Die Erde wartet schon sehnsüchtig darauf, in ein weißes Winterwunderland verwandelt zu werden.“ „Hast du in den letzten Jahren mal genauer hingeschaut, liebes Christkind? Auf der Erde ist es ganz schön schmutzig und vor allem viel zu warm geworden. Meistens dauert es nur ein paar Stunden, bis wir wieder geschmolzen sind und zurück in den Himmel gesogen werden. Dabei nehmen wir jedes Mal jede Menge Dreck mit. Uns reicht es! Wir gönnen uns jetzt eine Pause.“ Schorsch verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist wohl wahr“, überlegte das Christkind. „Aber dieses Problem werden wir vermutlich nicht über Nacht lösen.“ „Ganz bestimmt nicht“, pflichtete Schneeflocke Schorsch bei. „Und deshalb bleiben wir jetzt hier oben in unserer Wolke. Für uns gibt es keinen Grund, zur Erde zu fliegen.“ „Könntet ihr das noch einmal für die Kinder machen? Ihr würdet ihnen eine große Freude bereiten – und sie können ja nichts dafür, dass die Erde immer schmutziger wird.“ Schneeflocke Schorsch blickte zu seinen frostigen Freunden hinüber, die nun alle ein wenig betrübt dreinblickten. Die Kinder hatten wirklich immer viel Spaß, wenn sie zu Besuch kamen. Sie bauten Schneemänner, fuhren Schlitten, machten Schneeballschlachten, tobten und lachten. Schneeflocke Schorsch ergriff wieder das Wort. „Das Christkind hat recht. Die Kinder können wirklich nichts dafür. Was meint ihr, sollen wir die Reise heuer noch ein letztes Mal antreten?“ Die Schneeflocken lösten sich zum Zeichen der Zustimmung leise von der Wolkenwand. „Gibst du uns ein bisschen Starthilfe, liebes Christkind?“, bat Schorsch. Das ließ sich das Christkind nicht zweimal sagen. Schnell schnappte es sich den Wolkenzipfel und schüttelte ihn so lange, bis sich auch das letzte Flöckchen auf den Weg zur Erde gemacht hatte, ehe es selber aufbrechen und fröhliche weiße Weihnachten feiern konnte.
Inspiration für diese Geschichte war die „Schnee-Verkostung“ meiner kleinen Nichte Leonie.