Alfred löschte das Licht. Er war stets der Letzte, der abends die Bibliothek verließ und der Erste, der sie morgens wieder öffnete – und das seit mehr als 42 Jahren. Er drehte das Eingangsschild auf „Geschlossen“, schlüpfte in seine dicke Strickjacke, die für kalte Winterabende über seinem Stuhl hing und streifte noch einmal leise durch die mit warmem Mahagoniholz getäfelten Räume. Alfred prüfte Temperatur und Luftfeuchtigkeit. In der Bibliothek befanden sich einige sehr seltene Erstausgaben, die mit besonderer Vorsicht behandelt werden mussten. Die Raumtemperatur musste zwischen 14 und 20 Grad Celsius liegen, die Luftfeuchtigkeit zwischen 40 und 55 Prozent. Alfred blickte auf das Messgerät: 18 Grad, 49 Prozent Luftfeuchtigkeit. Alles im grünen Bereich. Er schloss die Tür zur Raritätenabteilung und ging in Richtung Fachliteratur.
Es roch noch genauso wie vor 42 Jahren, als er zum ersten Mal über die Schwelle der Bibliothek trat und ihm der Duft von Papier und Staub entgegenschlug. Alfred mochte den Geruch. Er fand, es hing ein Hauch von intellektueller Liebe in der Luft. Ein Gedanke, den wohl nur ein Bibliothekar hegen konnte.
Er strich mit den Fingerkuppen über mächtige Buchrücken mit goldgeprägten Titeln. Im Kaminzimmer machte er kurz Halt und setzte sich in den piniengrünen Lesesessel, dessen Samtbezug sich im Laufe der Jahre deutlich abgenutzt hatte. In der Weihnachtszeit stöberte er hier gern nach Dienstschluss in den Märchenbuchregalen, um die schönsten Geschichten mitzunehmen und sie an den Adventssonntagen seinen Nichten und Neffen vorzulesen.
Nachdem er alle Titel sorgfältig begutachtet hatte, entschied er sich für Der standhafte Zinnsoldat. Ein Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen, das er jedes Jahr von neuem auswählte. Irgendetwas an der Geschichte faszinierte ihn. Vielleicht war es die aus Papier ausgeschnittene Figur der Tänzerin, vielleicht der einbeinige Zinnsoldat, vielleicht die Lyrik der Erzählung, vielleicht aber auch die Erinnerung an seinen Vater, der ihm die Geschichte jedes Weihnachten vorgelesen hatte. Alfred nahm es aus dem obersten Regal, sodass Die Wichtelmänner der Gebrüder Grimm leicht kippten und sich an Die Sterntaler, ebenfalls von den Gebrüdern Grimm, anlehnten. Zufrieden mit seiner Wahl zog Alfred an der Schnur der kleinen grünen Leselampe und schloss die schwere Holztür hinter sich, ehe er sich schließlich ins Schneegestöber hinauswagte und sich auf den Heimweg machte.
In der Bibliothek war es nun mucksmäuschenstill. Nur ab und zu hörte man das Knacken der knorrigen Holzregale, die unter der Last der Bücher ächzten. „Ist er endlich weg?“, flüsterten Die Wichtelmänner. „Ja, ich glaube, jetzt sind wir wieder unter uns“, antwortete Die Schneekönigin – ebenfalls ein Werk von Hans Christian Andersen. „Jedes Jahr das Gleiche. Der standhafte Zinnsoldat wird immer mitgenommen – und was ist mit mir? Meine Geschichte handelt von wahrer Nächstenliebe. Das ist die Botschaft, die er seinen Nichten und Neffen mit auf den Weg geben sollte und nicht, dass man für seine Liebe alle Strapazen überwindet und dann doch daran zugrunde geht“, ätzte das schmale Märchenbuch Die Sterntaler, dessen Seiten sich teilweise nur noch lose am Buchrücken festhielten. Immerhin handelte es sich um eine Ausgabe der zweiten Auflage aus dem Jahr 1819. „Dass er dich nicht mitnimmt, wundert mich nicht“, stichelte Die Schneekönigin. „Du siehst mittlerweile aus wie ein gerupftes Huhn. Sobald dich jemand aus dem Regal nimmt, um in dir zu blättern, segelt die Hälfte deiner Seiten auf den Boden. Da liegst du dann so zerstreut und durcheinander wie die Teile eines neu gekauften Puzzles.“ „Du brauchst nicht so herablassend auf mein Alter anspielen. Du hast selbst bereits 177 Jahre auf dem Buckel“, wehrten sich Die Sterntaler. „Das mag wohl sein. Nur wurde ich erst kürzlich in der Restaurationsabteilung wieder auf Hochglanz gebracht. Die Eselsohren wurden geglättet, die Seiten neu geheftet und der Einband farblich aufgefrischt“, prahlte Die Schneekönigin.
„Ach, hört doch auf mit dem Geschwätz“, meldeten sich nun Die Wichtelmänner zu Wort. „Die Optik ist doch vollkommen egal. Hauptsache, die Geschichte begeistert. Und wenn es darum geht, dann belegen wir garantiert den ersten Platz.“ „Das sagt ihr nur, weil ihr mit euren 202 Jahren genauso zerknittert ausseht wie Die Sterntaler“, lachte Die Schneekönigin.
„Die beste Weihnachtsgeschichte ist aber immer noch unsere“, meldete sich plötzlich ein Buch aus den unteren Regalen zu Wort. Es war die Erzählung Nussknacker und Mausekönig von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. „Fantasievoller als unser Kunstmärchen kann man eine Geschichte nicht erzählen.“ „Und was ist mit mir?“, rief Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen mit enttäuschter Stimme vom obersten Regalbrett. „Ich werde von euch und den Bibliotheksbesuchern genauso ignoriert wie in meiner Geschichte. Dabei ist diese so bedeutungsschwer, dass sie auf jeden Fall den ersten Platz verdient hätte.“
Ihre Erbostheit brachte Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern ins Wanken. Es stieß gegen Die Schneekönigin, die das Übergewicht bekam und an den vielen Buchregalböden vorbei in die Tiefe stürzte. Sie landete mit der Kante des Buchrückens auf den alten Holzdielen, wobei eine Ecke des frisch restaurierten Umschlags eingedrückt wurde. Der Aufprall der Schneekönigin erschütterte die Bücherregale und die Vibration des alten Holzbodens sorgte dafür, dass immer mehr Bücher mit kleinen Sprüngen Richtung Regalkanten tanzten und zu Boden vielen – und das so lange, bis schließlich nur noch ein Buch im Regal stand.
Fortsetzung folgt in Adventkalendertürchen #4