„Oh Schreck, das Kochbuch ist weg!“ „Was soll das heißen, das Kochbuch ist weg?“ Frau Kringle sieht zu, wie ihr Mann auf allen vieren durch die große Wohnküche robbt und mit prüfendem Blick jede Ritze unter die Lupe nimmt. „Irgendwo muss es doch sein. So ein 400-Seiten-Wälzer kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen.“ Der Weihnachtsmann rappelt sich mühsam vom tannengrün gefliesten Küchenboden auf und klopft sich keuchend den Staub von seinem roten Anzug. „Der Hauself sollte hier dringend mal wieder sauber machen.“ „Lass das mal meine Sorge sein. Und was ist jetzt mit dem Kochbuch?“ „Na, weg ist es! Verschwunden! Nicht mehr auffindbar!“ Herr Kringle lässt sich dumpf in den geflochtenen Schaukelstuhl vor dem knisternden Kamin fallen. Die Mundwinkel nach unten gezogen, zwirbelt er seinen langen weißen Bart und denkt angestrengt nach. Er hat seine Lieblingskekse bestimmt schon hundertmal gebacken. Mittlerweile müsste er das geheime Familienrezept in- und auswendig kennen. Aber er kann sich einfach nicht mehr an das Verhältnis von Butter, Zucker, Eiern, Mehl, Nüssen und Schokolade erinnern. 

Schon sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater und sein Ururgroßvater haben für Elfen, Rentiere und den Rest der riesigen Weihnachtsfamilie Schlemmerkekse gebacken. Es wäre das erste Weihnachten seit Jahrhunderten, an dem sie nicht in den Genuss dieser leckeren, weichen Schokoladenplätzchen kämen. Wenn er genau darüber nachdachte, waren die von allen geliebten Schlemmerkekse eigentlich gar keine Kekse. Vielmehr handelte es sich um saftige Küchlein mit einer himmlischen Rum-Marillen-Füllung unter einer knackigen Schokoladenglasur. Allein beim Gedanken an diese Kekse lief dem Weihnachtsmann das Wasser im Mund zusammen. Seine Schlussfolgerung: Kein Rezept, keine Schlemmerkekse. Keine Schlemmerkekse, kein Weihnachten.

„Das kannst du nicht machen“, wettert Frau Kringle. „Du kannst Weihnachten nicht einfach absagen. Schon gar nicht zwei Tage vor dem 24. Dezember.“ „Aber was soll ich denn bloß machen? Ohne meine leckeren Schlemmerkekse ist Weihnachten einfach nicht dasselbe.“ Der Weihnachtsmann vergräbt verzweifelt sein Gesicht in den Händen. „Überleg doch mal, wo du das Kochbuch zuletzt gesehen hast.“ Der Weihnachtsmann denkt nach. Seine Augen wandern konzentriert von links nach rechts, von rechts nach links. „Hmmm, es könnte sein, dass ich es letztes Weihnachten beim Verteilen der Geschenke dabei hatte. Ich erinnere mich dunkel, dass ich auf dem Rückweg aus Europa ein Karpfenrezept studieren wollte. Möglicherweise ist es vom Schlitten gefallen.“ 

Als der Weihnachtsmann im Rentierstall hinter seinem Haus am Nordpol 1 ankommt, weiß Rentier Rudolph bereits Bescheid. Die Elfen hatten wieder einmal gelauscht und die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „Wir sind gerade über Ebelsberg bei Linz geflogen, da hat es ordentlich geruckelt. Wahrscheinlich ist da das Kochbuch vom Schlitten gefallen.“ Der Weihnachtsmann drückt Rentier Rudolph einen dicken Schmatzer auf die rote Nase. Auf Rudi konnte er sich immer verlassen – ihm entging wirklich nicht die kleinste Kleinigkeit. „Dann lass uns gleich losfliegen und die ersten Geschenke in Ebelsberg ausliefern.“ Schnell verabschiedet sich der Weihnachtsmann von Frau Kringle, schultert einen großen Sack voller Geschenke und macht sich mit Rudi und seinen Rentierfreunden Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Dunder und Blixem auf den Weg.

Der Nachthimmel ist sternenklar, der Vollmond leuchtet wie eine überdimensionale Taschenlampe. Dank der fantastischen Sicht kommen sie schnell voran und befinden sich bereits kurz vor acht Uhr abends über dem Florianer Wald. Plötzlich stellt Rudi seinen kurzen Rentierschwanz auf. Er schnuppert und atmet die eisig kalte Winterluft tief durch seine feuchte Rentiernase, die sofort hellrot zu leuchten beginnt. „Ich kann ihn riechen, den Duft von frisch gebackenen Schlemmerkeksen“, ruft Rudi, zieht eine scharfe Linkskurve und steuert geradewegs auf die Traundorferstraße 18 zu. 

Der Schlitten hält vor dem Küchenfenster im ersten Stock. Es ist einen Spalt geöffnet, und der warme Duft schokoladiger Schlemmerkekse strömt dem Weihnachtsmann entgegen.„Leonie, bringst du mir bitte noch ein frisches Glas Marillenmarmelade?“ Uroma Erika zerkleinert gerade eine weitere Tafel Vollmilchschokolade, um sie in einem Kochtopf zum Schmelzen zu bringen. Leonie stellt das Marmeladeglas auf den Küchentisch, klettert auf die kleine Frühstücksbank und blättert in dem dicken, alten Kochbuch, in dem Uroma Erika das Rezept für die Schlemmerkekse gefunden hat. „Dieses Buch gehört Herrn Kringle“, liest Leonie laut vor. „Wer ist denn das?“ „Das wüsste ich auch zu gerne“, seufzt Uroma Erika. „Ich habe das Buch vergangene Weihnachten auf unserem Balkon gefunden. Ich dachte, einer der Nachbarn über uns hätte es aus Versehen fallen lassen, aber niemand im Haus hat das Buch je zuvor gesehen. Also habe ich es behalten. Es enthält die leckersten Rezepte, die ich je verwendet habe. Probier doch mal!“ Leonie schnappt sich eines der frisch gebackenen Schokoküchlein und beißt genüsslich hinein. „Mhhh, das schmeckt nach Weihnachten“, verkündet die kleine Küchenhilfe mit strahlenden Augen und probiert auch gleich noch ein zweites Keks. Gerührt beobachtet der Weihnachtsmann das Geschehen und klopft Rentier Rudi auf den Rücken. „Lass uns weiterfliegen, alter Freund. Ich sehe, unser Familiengeheimnis ist in guten Händen. Weihnachten ist gerettet!“

Inspiration für diese Geschichte waren die original Schlemmerkekse aka „Gatschkekse“ meiner Oma Erika.