Am nächsten Morgen, kurz vor acht Uhr, steckte Alfred den schweren Eisenschlüssel in das antike Kastenschloss der Bibliothek. Er drückte die schwere Klinke nach unten und trat ein, wobei er einen Schwall feuchtkalter Luft mit sich in die Eingangshalle riss. Der vertraute Duft von Papier und Staub stieg ihm in die Nase, er schloss die Tür und drehte das Eingangsschild auf „Geöffnet“. Während Alfred Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe ablegte, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Schnell kontrollierte er Temperatur und Luftfeuchtigkeit in der Raritätenabteilung. Beides war in Ordnung. Also ging er weiter in Richtung Kaminzimmer. Als er die hölzerne Tür öffnete, konnte er seinen Augen kaum trauen. Die gesamte Weihnachtsliteratur lag auf dem Boden verstreut, einzelne Seiten steckten zwischen den Buchdeckeln. Was war hier passiert? Vielleicht ein Erdbeben? Doch die Bücher in den anderen Abteilungen standen wie eh und je an ihren Plätzen. Das konnte er also ausschließen. Möglicherweise ein Einbruch? Auch unwahrscheinlich. Die Diebe hätten dann bestimmt die wertvollen Exemplare aus der Raritätenabteilung mitgenommen.

Vorsichtig bahnte sich Alfred seinen Weg durch das Kaminzimmer. In der hintersten Ecke entdeckte er das einzige Buch, das noch im Regal stand. Tausend Seiten stark und von unschätzbarem Wert. Es war ein seltener Sammelband mit den schönsten Weihnachtsmärchen von brillanten Autoren wie Hans Christian Andersen, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und den Gebrüdern Grimm, den er aus seiner eigenen Papierschatzkammer in die Bibliothek gebracht hatte. Alfred lächelte. Warum war es ihm in den vergangenen Jahren eigentlich immer so schwer gefallen, sich für eine Geschichte zu entscheiden? Hier hatte er sie doch alle an einem Ort gesammelt. Alfred nahm das Märchenbuch vom Regal. Es war so groß und schwer, dass er es auf den linken Unterarm legen und zwischen Ellenbeuge und Fingerspitzen einklemmen musste. Langsam blätterte er mit der rechten Hand die seidenzarten Seiten um. Vergilbte Tuschezeichnungen wechselten sich mit Textseiten in verschnörkeltem Altdeutsch ab. Als er bei der Geschichte Der standhafte Zinnsoldat angelangt war, segelte plötzlich ein zusammengefaltetes Blatt Papier zu Boden. Alfred legte das Märchenbuch behutsam zurück ins Regal und bückte sich. Seine Knie schmerzten und als er sich wieder aufrichtete, fasste er sich mit der linken Hand stützend an die Lenden. Er setzte sich in den abgewetzten Lesesessel und öffnete das gefaltete Briefpapier.

Mein lieber Alfred,
es ist Weihnachtsabend im Jahr 1953 und du sitzt mit deinem Vater im Wohnzimmer. Ihr trinkt eine Tasse Tee und er liest dir seine Lieblingsgeschichte „Der standhafte Zinnsoldat“ vor. Eine Tradition, die ihr seit vielen Jahren teilt. Genauso wie eure Art zu denken, euren Sinn für Gewohnheit und Gerechtigkeit, eure Liebe zu Vertrautem und eure Vorbehalte gegenüber Neuem. Versteh mich nicht falsch, es liegt eine gewisse Magie in Brauchtum und Routine. Doch manchmal würde ich mir wünschen, dass du die Welt mit etwas offeneren Augen siehst, unbekannte Wege gehst und dem Schicksal eine Chance gibst. Und sei es nur, indem du ein neues Weihnachtsmärchen zur Hand nimmst. Du würdest erstaunt sein, was kleinste Veränderungen bereits bewirken können.
Fröhliche Weihnachten, mein lieber Alfred.
Deine dich liebende Mutter 

Alfred saß noch lange in seinem Lesesessel. Immer wieder las er den Brief seiner Mutter und überlegte, warum sie ihm diese Zeilen zu Lebzeiten nie gegeben hatte. Vielleicht hatte sie das Blatt Papier zum Pressen in das Märchenbuch gelegt und es dann vergessen. Vielleicht wollte sie aber auch, dass das Schicksal darüber entscheidet, wann er diese Zeilen zu Gesicht bekommt. Alfred faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn unter die grüne Leselampe, die auf dem kleinen runden Holztisch neben ihm stand. Noch immer in Gedanken versunken, erhob er sich und begann in gemächlichem Tempo, die auf dem Boden verstreuten Bücher wieder in die Regale zu räumen.

Als Alfred am nächsten Morgen den schweren Eisenschlüssel in das antike Kastenschloss der Bibliothek steckte und einen Schwall feuchtkalte Luft in die Eingangshalle trug, war er nicht allein. In gewohntem Rhythmus legte er Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe ab und deutete seinen Nichten und Neffen, es ihm gleich zu tun. Als alle ihre Mäntel ausgezogen hatten, machten sie sich auf den Weg zum Kaminzimmer mit den Weihnachtsmärchen. Staunend betrachteten die Kinder die dicht bestückten Bücherregale, die sich ordentlich bis unter die hohe, holzgetäfelte Decke reihten. So viele Bücher auf einem Fleck hatten sie noch nie gesehen.

„Es ist an der Zeit, dass ihr euch eure eigene Lieblingsgeschichte aussucht“, lächelte Alfred und machte mit beiden Armen eine ausladende Bewegung. „Aber wo sollen wir anfangen, Onkel Alfred? Es sind ja so unglaublich viele“, wollten die Kinder wissen. „Vertraut eurem Herzen und dem Schicksal, dann werdet ihr bestimmt die richtige Wahl treffen. Und wenn ihr wollt, könnt ihr immer wieder kommen und euch neue Bücher ausleihen – denn jede Geschichte birgt ihre eigene Wahrheit und versprüht ihren ganz eigenen Zauber“, antwortete Alfred, während er sich in seinem abgewetzten Lesesessel zurücklehnte und freudig zusah, wie die Kinder ihrer Intuition folgten und die schönsten Weihnachtsmärchen mit ihren eigenen Augen ganz neu entdeckten.

Als Alfred abends die Bibliothek abschloss und die Kinder nach Hause brachte, erwachten die Bücher in der Märchenabteilung wieder zum Leben. „Habt ihr das heute Morgen gehört?“, wollten Die Sterntaler wissen. „Ja, und ich schäme mich sehr“, antwortete Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. In seiner Stimme schwang ehrliche Betroffenheit mit. „Es tut mir leid, dass ich mich für etwas Besseres gehalten habe. Und es tut mir leid, dass ich uns alle mit meinem Gezeter zu Fall gebracht habe.“ Sowohl Die Schneekönigin, als auch Nussknacker und Mausekönig wippten verzeihend von einer Buchkante zur anderen. „Was haltet ihr davon, wenn wir statt unserer nächtlichen Zankereien von nun an unsere Geschichten miteinander teilen?“, schlugen die sonst eher forschen Wichtelmänner freundlich vor. „So können wir unserer Bestimmung folgen – egal, ob uns jemand mit nach Hause nimmt oder ob wir Weihnachten hier gemeinsam im Kaminzimmer verbringen.“ Plötzlich war ein leises Trommeln in der Bibliothek zu hören. Es war der Klang der Bücher, die nun alle im Chor zustimmend von Buchkante zu Buchkante wippten.


Inspiration für diese Geschichte war ein Blick in diesen kleinen Buchladen in Genf.